Die vorliegende Nummer 4 von impEct erscheint später als geplant. Aber sie erscheint!
An erster Stelle steht eine kurze Würdigung unseres Kollegen, Herrn Prof. Dr. Klaus-Dieter Jacob, der ganz maßgeblich das internationale Profil des Studienganges International Business der FH Dortmund mitbestimmt hat. Er ist im laufenden Jahr in den Ruhestand getreten.
impEct No. 4 - Artikel
Der Anstoß zu dem Symposium, das im November 2008 am Fachbereich Wirtschaft derFachhochschule Dortmund zum Thema „Europa – der unsichtbare Kontinent“ stattgefunden hat, war der verbreitete Eindruck gewesen, dass sich die Europäische Union mit und seit der Lissabon-Agenda von 2000 deutlich von ihren ursprünglichen Zielen entfernt hatte. Wissen und Innovation wurde darin als die zentralen Treiber formuliert, die die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Erde machen sollten. So wie im wirtschaftlichen Bereich die USA als Maßstab des eigenen Handelns aufgefasst wurden, griff im Bereich der Hochschulausbildung die Auffassung um sich, man müsse sich so „aufstellen“, um in den US-Rankings berücksichtigt zu werden. Dies alles unter dem Motto:„Man muss realistisch sein!“
Demgegenüber war es mein Bedürfnis zu zeigen, dass Internationalisierung der europäischen Hochschulen nicht die Standardisierung im Sinne einer Anpassung an ein Modell bedeuten kann, sondern dass ausgehend vom eigenen Umfeld die Differenzierung die angemessene Antwort ist. Realistisch sein heißt danach, die Studierenden mit der eigenen, aber verschütteten kulturellen Wirklichkeit Europas vertraut zu machen, um ihnen einen individuellen und sozialen Ankerpunkt für die Internationalisierung zu ermöglichen. Die Besinnung auf Europa als Orientierungsrahmen setzt sich pointiert von der EU als quasi-staatlichem Gebilde ab, das diese Orientierungsfunktion nicht (mehr) in ausreichendem Maß wahrnehmen kann.
Die Beiträge zu dem erwähnten Symposium finden sich in der vorliegenden Nr. 4 von impEct. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen für ihre Mitarbeit und die angeregte Diskussion. Ich habe die Beiträge in folgender Weise gruppiert.
1. Staat und Markt
In seinem Beitrag „The success of Market failure“ vertritt Alan Ward, Plymouth, die – durch die Finanzkrise erneut aktuelle – These, dass Märkte systemische Schwächen haben, die der Korrektur durch ein koordiniertes Handel n der Staaten der Welt bedürfen. Er warnt davor, die Debatte weiter zu ideologisieren: Staatsgläubigkeit einerseits und Marktfundamentalismus andererseits könnten zusammen erneut eine radikale Kapitalismuskritik heraufbeschwören und Europa von der Aufgabe der Regulierung insbesondere der Finanzmärkte ablenken.
2. Markt und Gesellschaft
Bruno Bizeul, Cergy-Pontoise, nimmt in seinem Aufsatz „Cultural vs. Linguistic Bonds: Diversity – but Which Unity?“ das Diktum von Jacques Delors auf, wonach der Markt allein die Europäer nicht zusammenführen könne, sondern des „ciment émotionnel“ bedürfe. Dieser Begriff verweise auf die Unterscheidung der römischen Jurisprudenz, die jusfraternitatis” und affectio societatis voneinander unterschieden hatte. Der „ciment émotionnel“ beziehe seine Bindewirkung aus dem gemeinsamen Willen, von den anderen zu lernen, mit ihnen das tägliche Leben zu teilen und den Austausch auf Vertrauen zubauen. Diese anthropologische Basis des Zusammenlebens ist verschüttet und erfährt durch den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss der EU keine unmittelbare Stärkung. Im Gegenteil erweisen sich die kulturellen und sprachlichen Unterschiede in Zeiten wirtschaftlicher Krise als dauerhafte Widerstände, die dem offiziellen Gemeinschaftsdiskurs trotzen.
3. Gesellschaft und kommunikative Kompetenz
Erika Nardon-Schmid, Mailand, plädiert deshalb für eine europäische Kultur der Mehrsprachigkeit: Sie sei das Medium, in dem sich Europäer unterschiedlicher Herkunft einander annähern können. Ein Zusammenleben dieser Art verändert beide Seiten im Sinne des „ciment émotionnel“, weil die Erfahrung der interkulturellen Interaktion nicht im intellektuellen Bereich des Wissens verbleibt, sondern affektiv bedeutsam wird und damit zu einem Teil der Persönlichkeit und der von ihr ausgebildeten Haltung.
In ähnlicher Weise unterstreicht Helga Fouré-Joopen, Clermont-Ferrand, in ihrem Aufsatz „Kann Europa eine <europäische Sprache> besitzen?“ die gemeinschaftsbildende Qualität der Mehrsprachigkeit, die die regionalen und nationalen Kulturen nicht beschädigt, sondern ihnen eine neue Bedeutsamkeit verleiht und sie von dem Rückfall in Partikularismus und Nationalismus bewahrt. Aber wie lassen sich Pluralität und affektive Gemeinsamkeit begrifflich zusammendenken? Dieser Frage widmet sich der folgende Beitrag.
4. Europa – Gesellschaft oder Gemeinschaft?
Der Beitrag von Gerhard Held, Berlin/Dortmund, „Kann Europa seine Differenzen zelebrieren?“ unterscheidet drei emotionale Ladungen, die das Zusammenleben der Europäer charakterisieren können:
• Bindekraft qua Homogenität
• Bindekraft qua Schicksalsbindung mit starker gegenseitiger Haftung
• Bindekraft durch Diskursgemeinschaft („Arena“)
Eine gesamteuropäische Finalität im Sinne einer verbindlichen „großen Erzählung“ scheidet für Held aus, weil darin die spezifischen europäischen Differenzen verschwinden würden. Stattdessen plädiert er für ein Europa variabler Wirtschafts- und Politikstile, unterschiedlicher Modernisierungspfade und mit variabler Geographie sowie variabler geschichtlicher Verortung, also gegen ein Kerneuropa. Der Zusammenhalt würde prozeduraler Natur sein, basierend auf der Akzeptanz unterschiedlicher, aber gleichwertiger kultureller Gestalten, - gleichwertig, da durch eine gemeinsame Geschichte sanktioniert.
Javier Espina Hellín, Madrid, vertritt in seinem Thesenpapier „Europa ¿estamos preparados para ser una alternativa con capacidad de liderazgo?“ demgegenüber die Auffassung, dass Europa an einer zu großen Duldsamkeit gegenüber den Differenzen, dem „hecho diferencial“ kranke. Nur eine parallele Stärkung nationaler wie europäischer Institutionen und eines Gemeinschaftsideals könne Europa zu einem Selbstbewusstsein führen, das trotz der Differenzen eine größere Handlungsfähigkeit ermöglicht. Der Wunsch nach einer stärkeren Legitimation und Bürgernähe der europäischen Institutionen wird im folgenden Beitrag in einen weiten historischen Rahmen gestellt.
5. Europa als Labor der Zukunft
Jean-Louis Georget, Paris, rekapituliert in seinem Aufsatz „Die europäische Identität, oder: der schrittweise Aufbau einer neuartigen Macht“ die Genese wichtiger geschichtsmächtiger Motive, die heute die Selbstfindung Europas erschweren. Er geht aus vom Orientierungsverlust und dem daraus resultierenden Ohmachtsgefühl vieler Europäer, welche die Umbrüche des 20. Jahrhunderts sowie die Globalisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse nach sich gezogen haben. Dies aber, so betont er, erfolgt auch in anderen Ländern. Die verwickelte Geschichte von Patriotismus und Nationalismus macht die Individuen seit Generationen zum Austragungsort unterschiedlicher Leitideen und politischer Interessen, die nicht im Handstreichverfahren abgeschüttelt werden können. Nach der Durcharbeitung der Traditionen kristallisieren sich drei Weisen heraus, wie man heute Europa erzählen kann:
1. aus der traditionellen politischen und diplomatischen Perspektive,
2. im Stil der Analyse von Machtzentren und Einflussbereichen,
3. im Stil desmehr oder weniger gut funktionierenden EU-Institutionengefüges: Ein von den Exzessen des 19. und 20. Jahrhunderts gereinigtes Nationalgefühl könnte „die Form eines konstitutionellen Patriotismus kosmopolitischer Natur annehmen“ , der nicht im Kontrast zu den europäischen Institutionen steht, sondernsie befeuert, denn eine europäische Identität „setzt eine politische Identität vor aus, die über einfaches Interessen- und Nützlichkeitskalkül hinausgeht“. Allerdings ist es weiter Weg hin zu einer europäischen Öffentlichkeit: Dass die Europäer die eigenen Nachbarländer kaum kennen, ist dafür das größte Hindernis: An zweiter Stelle mangelt es an einem europäischen Diskurs: Europäische Entscheidungen werden in einer national eingefärbten Interessensprache vermittelt und häufig entstellt. Schließlich stellt die nationale Thematik in Mittelosteuropa die Europäer vor eine besondere Herausforderung, weil dort eine komplexe Schichtung der Siedlungsräume vorliegt. Doch sollte sich hier die europäischer Vorreiterrolle als politischer Konsens- und Friedensstifter bewähren, -ein Ehrentitel, der nicht hoch genug einzuschätzen ist. Bei entsprechender Geduld und nicht nachlassender Energie könne Europa zu einer originellen Form des transnationalen Zusammenlebens finden.
6. Die Bildung eines europäischen Zusammenhaltes aus „gemeinsamen Situationen“ (Schmitz)
Werner Müller-Pelzer, Dortmund, unternimmt in seinem Beitrag „Europa ein Rückgrat geben – Wie ist heute in Europa Gemeinschaft möglich?“ den Versuch, das verschiedentlich angesprochene Bedürfnis nach der Begründung der schwer fassbaren Treiber eines europäischen Wir-Empfindens zu beantworten. Er stützt sich dabei auf den von Hermann Schmitz vorgeschlagenen Begriff der Situation als ontologischer Grundbegriff. Situationen umgreifen Subjekt und Objekt dynamisch und ziehen in ihren Bann, sofern sie mit atmosphärischen Gefühlen aufgeladen sind. Die Bedeutsamkeit für uns muss nicht erst in sie hineingelegt werden, sie tritt uns suggestiv entgegen. Deshalb ist es viel versprechend, wenn Situationen identifiziert werden können, aus denen bestimmte Aspekte europäischen Lebens als vielsagende Eindrücke hervortreten und Prägekraft entwickeln. Dafür ist allerdings eine Revision der europäischen Intellektualkultur notwendig, die bislang wesentliche Bereiche der menschlichen Erfahrung aus blendet oder nur in entstellter Form berücksichtigt (Leib, leibliche Kommunikation, Gefühle). Ein resonantes interkulturelles Verstehen kann nicht den Typ der Bindekraft antizipieren(s. dazu oben die „emotionale Ladung“ bei Held), der in der Begegnung mit anderen Menschen entsteht:Gemäßigte Inklusion und leidenschaftliche Implantation in neue Situationen sind gleichermaßen möglich und müssten eine europäische Pädagogik auf den Plan rufen, die der modischen „Coolness“ entgegentritt. Studierende z. B. sind in der glücklichen Lage, während eines hinreichend intensiven Auslandsauf enthaltes sich in dieses Abenteuer zu begeben, aus dem Europa neue Kraft beziehen kann. Die Europäisierung der nationalenIdentitäten (s. den Aufsatz von Georget) ist in sofern keine Agenda, die allein politisch vorangebracht werden könnte,weil dies nur auf der Ebene der menschlichen Erfahrungen möglich ist. Deshalb kann man nur hoffen, dass die europäischen Politiker von einer sich stärker artikulierenden öffentlichen Meinung daran gehindert werden, in eine nationalistische Rhetorik und Handlungsweise zurückzufallen.