Inhalt anspringen
Kooperation der Sozialen Arbeit

Gänsehaut in Südafrika

Veröffentlicht
Die Dortmunder Delegation in Johannesburg mit Prof. Dr. Michael Boecker (l.), Sandra Bolesch (2.v.r.) und Diplom-Sozialarbeiterin Dorothée Boecker (r.).

Wenn im November fünf Doktorand*innen der Sozialen Arbeit aus Südafrika und Simbabwe für einen Monat die Fachhochschule Dortmund besuchen, startet das nächste Level in einer Kooperation, die als Paradebeispiel dienen könnte für den Gedanken des Voneinander-Lernens.

Bei dieser vom DAAD (Öffnet in einem neuen Tab)  geförderten Kooperation geht es um Soziale Arbeit. Um Globalisierung. Um die SDGs, also die Sustainable Development Goals der UNO zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung der Menschheit, und um die Frage, was diese SDGs für die Soziale Arbeit bedeuten.

Es geht um Menschen in Johannesburg und in Durban (Südafrika), Menschen in Harare (Simbabwe) und Menschen in Dortmund. Was sie voneinander lernen können. Welche Vorurteile sie hegen und welche davon sich ändern lassen und wie.

Es geht darum, wie diese Menschen zusammen die Soziale Arbeit voranbringen können. Und wie aus einem vorübergehend geförderten Kooperationsprojekt etwas Dauerhaftes werden kann, das die nächsten Generationen der Wissenschaftler*innen und Sozialarbeiter*innen weiterführen können.

Es geht auch um Eindrücke aus Afrika wie diesen, beobachtet von der Doktorandin Sandra Bolesch: „Vor dem Apartheidsmuseum gab es zwei Eingänge. Über dem einen hing ein Schild mit der Aufschrift ‚whites‘, über dem anderen eins mit der Aufschrift ‚non-whites‘. Auf der Eintrittskarte stand, man könne selbst entscheiden, wo man reingehen möchte. Das war sehr bedrückend.“

Und es geht um Waschmaschinen und Kinderschwangerschaften, um Fluten und Tornados, um Powerpoint-Präsentationen und Schauspielerei.

Das Netzwerk wächst immer schneller

„Die Idee für die einmonatigen Gastaufenthalte entstand 2021“, erinnert sich Prof. Dr. Michael Boecker. „Damals haben wir vier Doktorand*innen der Uni Johannesburg und der Uni Durban die Möglichkeit gegeben, einen Monat zu uns an die FH Dortmund zu kommen. Und das hatte einen ausgesprochen nachhaltigen Effekt. Da bestehen seitdem lebendige Kontakte. Es gab Lectures von den Gästen bei uns, da haben wir gemerkt, das bringt für die Hochschule noch mal viel, viel mehr.“

Mit dem Besuch der Studierenden aus Südafrika und Simbabwe im November sollen sich diese Aufenthalte nun verstetigen: „Im April 2024 gehen dann zwei von uns und je zwei von den anderen Hochschulen für einen Monat nach Durban“, kündigt Michael Boecker an. „Wir versuchen, ein Netzwerk zu initiieren, das das Projekt selbst überlebt und anschließend autonom weiter an den Themen arbeitet.“

„Die Kooperationspartner*innen (v.l.): Prof. Devika Naidoo, Dr. Mildred Nushunje, Prof. Dr. Tanusha Raniga, Michael und Dorothée Boecker sowie Dr. Maud Mthembu.

Darüber hinaus wollen Michael Boecker und die Kooperationspartner*innen jedes Jahr einen Kongress organisieren. Nicht digital, sondern so richtig mit hinreisen, Hände schütteln, in Augen schauen, Luft atmen, Welt kennenlernen. Der erste ist gerade gewesen, im Juli in Johannesburg. Etwa 40 Nachwuchswissenschaftler*innen und Professor*innen, darunter acht Studierende der FH Dortmund sowie Michael Boecker und Diplom-Sozialarbeiterin Dorothée Boecker, seine Kollegin und Frau.

Eine Utopie als Ziel

„Nüchtern betrachtet, ist der Kongress nur der sichtbarste Teil eines Netzwerks zwischen den beteiligten Hochschulen, das das ganze Jahr funktioniert“, sagt Dorothée Boecker. Aber Sozialarbeiter*innen denken nun mal nicht nur nüchtern und dieser Kongress war weit mehr als ein sachlicher Austausch von Informationen.

Er war in mehrfacher Hinsicht eine Offenbarung. „Da hatten wir wirklich Momente, da dachte ich‚ wow, Gänsehaut‘“, sagt Michael Boecker.

Gebäude der Universität Johannesburg.

Wir hatten das Gefühl, wir sind hier bei einer ganz, ganz großen Sache dabei.

Dorothée Boecker, Diplom-Sozialarbeiterin

Das Oberthema des Kongresses bildete die Frage: Was bedeuten die SDGs für die Soziale Arbeit? „The Sustainable Development Goals of the United Nations are thus more than just a compass in confused times or a playground for transfomation research”, bekräftigte Michael Boecker in seiner Begrüßungsrede beim Kongress. “The extent to which they are implemented will have a decisive impact on the lives of further generations and affect humanity as a whole.” Das Wort „decisive“ ist in seinem Redemanuskript unterstrichen.

Ein südafrikanischer Doktorand spricht über die SDGs.

2015 hat die UNO die SDGs veröffentlicht. Die ersten drei lauten „Keine Armut“, „Kein Hunger“ und „Gesundheit und Wohlergehen“, und das ist global gemeint: Kein einziger Mensch soll unter Armut, Hunger und ungesunden Auswirkungen der Zivilisation leiden müssen. Die SDGs sind laut UNO „ein globaler Plan zur Förderung nachhaltigen Friedens und Wohlstands und zum Schutz unseres Planeten“. Man könnte auch sagen: Das größte und hehrste Ziel, das sich die Menschheit je setzte.

Seit 2016 arbeiten laut UNO alle Länder daran, den Plan zu verwirklichen. Zieldatum: 2030. 
Die Internationale Vereinigung der Sozialen Arbeit hat anlässlich der SDGs vier Pfeiler aufgestellt, an denen sich alle Bemühungen ausrichten sollen. Einer dieser Pfeiler lautet: sozialer Zusammenhalt und die Kraft von Beziehungen.

„Es ist so wichtig“, stellt Michael Boecker heraus, „dass bei diesen Themen alle ans Denken kommen. Solange wir CO2 abbauen, aber in Südafrika Kohlekraftwerke subventionieren, um dann wieder billigen Kohlestrom zu bekommen, läuft was schief. Wenn in Lateinamerika Regenwälder, die wir dringend brauchen, abgeholzt werden, um Soja anzubauen, weil es dafür in Asien eine Wahnsinns-Nachfrage gibt, dann läuft das dem Klimaschutz zuwider, der eigentlich höchste Priorität haben muss. Dann muss man sich das im Großen anschauen und wieder runterbrechen auf die Frage: Was heißt das denn für uns persönlich? Da kommt es dann ganz nah bei den Menschen an.“

Diese schädlichen Verwicklungen der Globalisierung anzugehen, verlangt Ausdauer und Weitsicht. Deswegen die Pflege und Ausweitung des Netzwerks, deswegen die langfristige Sicht. „Das ist sowieso typisch für Soziale Arbeit“, sagt Dorothée Boecker. „Da trägt vieles erst nach Jahren oder Jahrzehnten Früchte.“

Die Sache mit den Hautfarben

„Es war sehr bewegend zu sehen, dass wir trotz der Geschichte unserer Nationen, die geprägt ist von europäischen Kolonialherren in Südafrika und Apartheid, offen aufeinander zugegangen sind“, sagt Sandra Bolesch über den Kongress. Im Gegensatz zu Dorothée und Michael Boecker, die schon vor 20 Jahren in Südafrika ein Waisenheim, ein Gesundheitszentrum und eine Jugendbildungsstätte aufgebaut haben, war sie zum ersten Mal in diesem Land.

Sandra Bolesch hat einen Bachelor in Sprachwissenschaft, einen Master in BWL und arbeitet jetzt an ihrem Doktor in Angewandten Sozialwissenschaften zum Thema Wahrnehmung von Geflüchteten in Deutschland basierend unter anderem auf derer Hautfarbe. „Mir war es wichtig, auf dem Kongress mit BIPoC ins Gespräch zu kommen und ihre Meinungen zum Thema meiner Doktorarbeit zu hören.“ („BIPoC“ steht für „Black, Indigenous and People of Color“.)

„Eine Professorin aus Durban zeigte Interesse an meinem Thema – wenn ich ganz viel Glück habe, wird sie vielleicht die Erstbetreuung meiner Doktorarbeit übernehmen. Das ist aktuell noch in Klärung.“ Sandra Bolesch unternahm im Anschluss an den Kongress eine Reise durch Südafrika und sammelte dabei noch viele weitere Eindrücke.

Im Apartheidsmuseum: Das Zitat eines Soziologieprofessors von 1945, in dem er das "Vermischen des Blutes" von weißen und scharzen Menschen zutiefst ablehnt und als Gefahr für die Gesellschaft brandmarkt.

Zum Beispiel diesen: „Im Apartheidsmuseum in Johannesburg war der Spruch zu lesen: ‚Der weiße Mann wird immer der Master von Afrika bleiben.‘ Und in einer Vitrine lag ein Wörterbuch für Hausmädchen von damaligen Kolonialherren, die meist dunkelhäutige Südafrikanerinnern waren. Eine der ersten und somit wohl wichtigsten Vokabeln lautete: ‚Bring the master coffee.‘ Da fehlen einem die Worte. Als ich dann merkte, dass sich der Raum mit einer Schulklasse füllte, alle BIPoC, fühlte ich mich plötzlich ziemlich fehl am Platz und habe mich gefragt, was die wohl über mich denken.“

„Nah bei den Menschen“ hätte der Untertitel des Kongresses lauten können. „Und plötzlich steht man da in der Uni in Johannesburg mit weißer Haut“, schildert Dorothée Boecker ihre Gedanken zu Beginn des Kongresses, „und man weiß: Das Gegenüber hat möglicherweise allein aufgrund meiner Hautfarbe Angst. Diese Gedanken mussten wir erst mal ablegen. Aber auch mit den Menschen aus Simbabwe, die ja gerade erst zu der Kooperation dazugestoßen sind, entstand direkt am ersten Tag ein sehr vertrauensvolles Verhältnis. Sie haben uns erzählt: Sie wussten vorher auch nicht, inwieweit die Hautfarben ein Problem sein könnten.“

Dieser Frage näherten sich die Teilnehmenden des Kongresses auch wissenschaftlich. Die offene, kritische Reflexion des Nord-Süd-Verhältnisses mit Blick auf den Postkolonialismus, die sie dort gelebt haben, sei etwas Besonderes, sagt Michael Boecker. „Da sind dann plötzlich so gewaltige Themen in der Diskussion, die über die Soziale Arbeit hinausgehen, und da sind junge Menschen, die darüber reden. Die Weißen denken offen über die Frage ihrer kollektiven Schuld nach. Das sind Momente, da denke ich, da ist was passiert.“

„Mir ist mal wieder klar geworden, wie privilegiert man als weißer Mensch ist. Wie selbstverständlich es zum Beispiel in Dortmund ist, eine Waschmaschine zu besitzen, was in Simbabwe absoluter Luxus ist. Mir wird der Flug nach Johannesburg bezahlt, aber ich könnte ihn mir auch selbst leisten. Eine Professorin aus Simbabwe könnte das nicht. Die Profs verdienen dort etwa 300 Euro im Monat.“

Bei einigen Studierenden habe ich gemerkt, wie sich richtig ein Schalter umgelegt hat, die zuerst vielleicht einfach neugierig und akademisch interessiert waren und dann plötzlich mit Leidenschaft und aus persönlichem Impuls heraus eingestiegen sind.

Prof. Dr. Michael Boecker

Härteres Leben

Bei den Berichten der Gastgeber*innen traten die viel schwierigeren Bedingungen zutage, denen sich die Soziale Arbeit dort gegenübersieht. Dorothée Boecker ist etwa eine „sehr interessante Diskussion über Frauenrechte“ im Gedächtnis geblieben.

Die Kolleg*innen aus Südafrika berichteten von einem Anstieg der häuslichen Gewalt, vor allem von Männern gegenüber Frauen und Kindern. Dazu komme die Armut, der erschwerte Zugang zu Bildung und die traditionelle Überzeugung, dass ein Mann einer Frau grundsätzlich überlegen sei.

Früher gab es im Vokabular einer Zulu-Frau kein ‚Nein‘. Das hat sich seitdem zwar verbessert, aber während der Corona-Krise hat sich das Problem häuslicher Gewalt wieder zugespitzt.

Diplom-Sozialarbeiterin Dorothée Boecker

Auch die Kinder haben keine ausreichende Lobby: Während der coronabedingten Schulschließungen mussten sehr viele von ihnen monatelang zuhause bleiben.
„Digitaler Unterricht und Teilhabe an Bildung war Kindern und Jugendlichen in Südafrika nicht möglich“, erläutert Dorothée Boecker.

„In der Geschichtensammlung von betroffenen Schüler*innen war der Schulbesuch nach dem südafrikanischen Lockdown ein Zeichen der Hoffnung, des Lebensmutes und eines Weges in die Zukunft. Der Bildungsweg, die Möglichkeit des Schulbesuchs, hat für die Heranwachsenden in Südafrika einen unschätzbaren Wert.“

„In ihrer Arbeit schrieb eine Promovierende aus Simbabwe darüber, dass Hygieneprodukte für Mädchen in ihrem Land nicht frei verfügbar beziehungsweise zu teuer sind. Befleckte Kleidung gilt jedoch als Stigma und bietet Angriffsfläche. Das hat zur Folge, dass Mädchen einmal im Monat für mehrere Tage nicht in die Schule gehen können.“

Ein Beitrag aus der queeren Community führte eindrucksvoll vor Augen, dass die Anfeindungen gegen Transgenderfrauen besonders schlimm sind. Dorothée Boecker: „Inwiefern diese Menschen von den bereits für Frauen eingeführten Verbesserungen profitieren, entfachte eine extrem spannende Diskussion.“

Südafrikanische Entschlossenheit

Umso mehr Respekt empfinde sie für die südafrikanischen Frauen. Weil sie nicht aufgeben. „Weil sie bei Problemen zusammen eine Lösung finden und sie umsetzen.“ Wie Dr. Maud Mthembu von der University of KwaZulu-Natal in Durban, die angesichts der vielen Kinderschwangerschaften zur Tat schritt.

Es komme auch in Deutschland vor, dass Kinder und Jugendliche schwanger werden, weiß Dorothée Boecker, die mehrfach mit Betroffenen gearbeitet hat. „Aber in Afrika hat das andere Dimensionen. Die Anzahl der Schwangerschaften ab einem Alter von elf Jahren ist sehr hoch und viele 13- und 14-jährige Mädchen haben in ihrem jungen Leben schon ein oder mehrere Kinder.“

Maud Mthembu entwickelte ein Buch. Darin erklärt eine Frau sehr kindgerecht, wie man eine Beziehung führt, was man in welchem Alter kann und darf und was man wissen muss. Vorsichtig und ohne Zeigefinger.

Gemeinsam mit Michael Boecker hatte Maud Mthembu schon in der Coronazeit ein Aufklärungsbuch verfasst. Und zwar in der Sprache isiZulu, „um die Kinder in Gegenden aufzuklären, die die Soziale Arbeit sonst gar nicht erreicht, und wo ihre üblichen englischsprachigen Materialien niemand verstehen würde“, sagt Michael Boecker. „Das sind so die kleinen Dinge, die konkret vor Ort eine echte Hilfe sind.“
Praktisch denken und anpacken, das verbinde die Sozialarbeiter*innen aus Deutschland, Südafrika und Simbabwe.

Das passt einfach. Wir sind alles keine reinen Akademiker*innen, sondern wir sind hier mal angetreten, weil wir einen Unterschied im Leben von Menschen machen wollten.

Michael Boecker über seine Kooperationskolleg*innen

Gewalten

Wobei die Anlässe dafür dort noch mal eine andere Präsenz haben. Sehr eindrücklich sei beispielsweise das Thema Naturkatastrophen von der Gruppe aus Durban gewesen.

2021 zerstörte dort eine gewaltige Überschwemmung die Gegend.
2022 kam eine zweite.
Im März 2023 verwüstete ein Tornado die Stadt.

„Die Teilnehmenden aus Durban standen gerade mittendrin im Anpacken, in der konkreten Sozialarbeit“, betont Dorothée Boecker. „Sie erfahren zurzeit am eigenen Leib, wie es ist, selbst hilflos und hilfebedürftig zu sein. Und wie superwichtig ein gutes Netzwerk ist.“

Michael Boecker: „Die Studierenden haben hautnah erlebt, dass diese sich häufenden Katastrophen eine Riesenaufgabe für die Soziale Arbeit sind. Die Kolleg*innen aus Durban haben uns Videos auf Youtube gezeigt, wo wir sahen, wie Menschen damit umgehen, denn es muss ja trotz allem immer irgendwie weitergehen. Videos, die zeigen, wie die Soziale Arbeit in Communities unterstützt.“

Und wie so oft sind es die Ärmsten der Armen, die am meisten zu leiden haben. Die Aufgabe, soziale Gerechtigkeit herbeizuführen, scheint nicht minder gewaltig zu sein.

„Weil Südafrika nicht genug Energie produzieren und einkaufen kann, wird im ganzen Land täglich für mehrere Stunden der Strom abgestellt. Wer reich ist, kauft sich einen Generator. Wer arm ist, muss dann einfach ohne Strom auskommen. Außerdem wird der Strom in den armen Gegenden viel länger abgestellt.“

Ein Hostel informiert seine Gäste darüber, dass von 20 bis 22 Uhr der Strom abgestellt wird.

Vielleicht ist es angesichts der schwierigeren Lebensumstände auch kein Wunder, dass die südafrikanischen Sozialarbeiter*innen kämpferischer sind. Politischer. Beim internationalen Tag der Arbeit machen die Hochschulen in Deutschland „eher verhalten akademische Angebote“ machen, während die Sozialarbeiter*innen in Südafrika auf die Straße gehen, demonstrieren und auch den Rest des Jahres viel aktivistischer Einfluss zu nehmen versuchen.

Und zwar mit einer eigenen Stimme, unabhängig von der freien Wohlfahrtspflege und von politischen Institutionen, oft zusammen mit ihren Zielgruppen. „In dieser Hörbarkeit gibt es das bei uns nicht“, sagt Michael Boecker. „Auch davon waren unsere Studierenden ziemlich beeindruckt und motiviert.“

Zum Leben erweckte Präsentationen

Eine dauerhafte Erinnerung für die Dortmunder*innen wird wohl auch die Art und Weise bleiben, mit der die Gastgebenden ihre Vorträge und Präsentationen ausgestaltet haben.
Prof. Boecker erzählt: „Die Studierenden haben in gemischten Arbeitsgruppen an verschiedenen Themen gearbeitet. Am Ende sollte es eine Präsentation geben, maximal 15 Minuten, formal haben ansonsten wir keine Vorgaben gemacht.

Wir haben gedacht, da kommen jetzt fünf Powerpoint-Präsentationen. Aber es kamen völlig unterschiedliche Sachen, es kamen Rollenspiele, wo man auch merkte, die Studierenden und Doktorand*innen aus Südafrika und Simbabwe machen das anders als wir, die gehen da wirklich rein, und es war toll.

Eine Gruppe hatte sich überlegt: Welche Traumata hat unsere Gesellschaft und wie gehen wir heute damit um? Sie haben die Außenminister der einzelnen Länder dargestellt und da stand ein junger schwarzer Mann und hat gesagt: ‚Ja, die Apartheid war da, es gab auch Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Aber wir sind bis heute verletzt und wir sind bis heute wütend.‘

Und die Deutschen haben das dann aufgegriffen und gesagt, wir als Deutsche waren 1913/1914 in Namibia und haben die Herero ermordet. Das war ein Genozid. Und bis heute ist der Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit dem Thema nicht befriedigend.“

„In meiner Gruppe ging es um vulnerable Gruppen. Wir haben überlegt, das zum Beispiel als Theaterstück oder als Lied darzustellen. Aber wir hatten jemanden dabei, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt. Der hat unser Ergebnis dann als mehrstrophiges Gedicht aufgeschrieben, das war  wirklich sehr beeindruckend.

Insgesamt waren an dem Tag vielleicht eine oder zwei Powerpoint-Präsentationen dabei, aber am häufigsten fiel die Wahl auf eine kreative Inszenierung der Ergebnisse.

Vielleicht ist das ein kultureller Unterschied. Vielleicht kriegt man Deutsche eher mit Fakten, und andere Kulturen springen vielleicht viel mehr auf emotionale Aspekte an. Wir hatten hinterher alle eine Gänsehaut und merkten, das funktioniert einfach fantastisch.“

An einem der Abende waren alle Teilnehmenden dazu aufgerufen, traditionelle Kleidung anzulegen. Die Dortmunder verfügten zwar nicht über solche Kleidung im eigentlichen Sinn - aber ein Trikot ist immerhin eine Annäherung.

Next-Level-Workshops

Noch bevor die Gäste aus Afrika im November 2023 an die FH Dortmund kommen, soll eine weitere neue Facette der Kooperation starten. „Wir werden Workshops anbieten, in denen wir den Spieß umdrehen“, sagt Michael Boecker und erläutert: „Mit Spieß ist gemeint, dass der Ansatz bei uns im Globalen Norden ja oft der ist, dass wir denen da unten mal zeigen wollen, wie es geht.

Das impliziert ein Wissensgefälle, das sich in meiner Disziplin aber überhaupt nicht mit meiner Erfahrung deckt. Die Kolleg*innen in Südafrika sind im Professionsdiskurs ganz klar weiter. Sie sind in der politischen Sozialen Arbeit weiter. Und zwar so viel weiter, dass unsere Studierenden da mit großem Mund sitzen und sagen: Wow.“

Die ersten beiden kooperativ organisierten Workshops, die geplant sind, gehen in die gleiche Richtung.
Ein Thema ist partizipative Aktionsforschung. Eine Methode, bei der Zielgruppen sehr stark eingebunden werden.

Michael Boecker: „Das ist bei uns bisher immer belächelt worden, auch in anderen Disziplinen. Weil es angeblich nicht der gebotenen wissenschaftlichen Distanz entsprach. Wenn man einen Menschen mit Behinderungen einbeziehen will, dann macht man mal ein Interview. Aber es ist bei uns bisher nicht denkbar, solche Menschen wirklich in der Forschung mit einzubeziehen, sie zum Beispiel das Forschungsdesign mitentwickeln zu lassen. Das kommt bei uns zwar gerade, aber im Globalen Süden war das schon immer eine der großen Methoden.

Da haben wir einfach Aufholbedarf, und die Kolleginnen und Kollegen hier am Fachbereich haben schon großes Interesse signalisiert.“

Das andere Thema lautet Community Development. Das Entwickeln von Projekten im Sozialraum mit anderen. „Wir bei uns haben immer eher die Einzelnen im Blick“, sagt Michael Boecker, „ganz neoliberal geprägt von Case Management und Einzelfallhilfe. Aber in vielen Ländern des Globalen Südens halten sie entgegen: ‚Wie soll das funktionieren? Stichwort Extended Family, der Mensch ist immer eingebettet in Umweltbezüge, das muss man entsprechend breiter sehen.“

In diesen beiden Punkten, sagt Michael Boecker, wollen sie es jetzt anders machen.

Da sind wir die Lernenden und holen uns Formate aus dem Globalen Süden, um uns zu verbessern.

Prof. Dr. Michael Boecker über die geplanten Workshops

Diese Seite verwendet Cookies, um die Funktionalität der Webseite zu gewährleisten und statistische Daten zu erheben. Sie können der statistischen Erhebung über die Datenschutzeinstellungen widersprechen (Opt-Out).

Einstellungen (Öffnet in einem neuen Tab)