Ihre Noten sind gut und die Studieninhalte interessant – da trifft Sabrina Günther einen überraschenden Entschluss: Sie bricht ihr Jurastudium ab.
Während des Studiums stellt die junge Frau fest, dass sie keine Anwältin sein möchte – und sie ist mutig genug, sich umzuorientieren. Sabrina, mit Spitznamen überall „Günny“ genannt, studiert heute im vierten Semester Soziale Arbeit an der Fachhochschule Dortmund. Dass vermeintliches Scheitern auch immer Chancen birgt, versucht „Günny“ jetzt jungen Studieninteressierten als StudyScout bei der Hochschule vor Ort zu vermitteln.
Gesetzbuch zum Geburtstag
Mit zehn Jahren wünschte sich „Günny“ ihr erstes Gesetzesbuch – und Gerechtigkeit für alle. Als Kind träumte sie von einer besseren Welt, und davon, als Anwältin einen Teil dazu beizutragen. Dass sie einmal Soziale Arbeit studieren würde, kam ihr dabei noch nicht in den Sinn.
Während ihrer Realschulzeit verfestigte sich „Günnys“ Interesse an juristischen Themen und sie entschloss sich dazu, das Abitur an einem Berufskolleg in Unna zu absolvieren. Den Entschluss, Jura zu studieren, fasste „Günny“ in der Oberstufe. Bis dato hatte noch niemand in ihrer Familie studiert. Weil die Eltern sich das Beste für die Tochter wünschen, rieten sie „Günny“ nach dem Schulabschluss eine Ausbildung zu beginnen und möglichst schnell Geld zu verdienen. Doch die junge Frau hatte andere Pläne – sie wollte studieren.
„Die TalentScouts sind Mutmacher*innen, die bei der Zukunftsplanung helfen.“
Das Leben an der Hochschule wirkte zunächst befremdlich, sogar etwas einschüchternd. Die am Berufskolleg verantwortlichen TalentScouts nahmen sich „Günnys“ Fragen und Sorgen an. Wie lässt sich ein Studium finanzieren und was bedeutet eigentlich das Wort „Immatrikulation“? Durch die Beratungsgespräche fasste „Günny“ den Mut, sich fürs Jurastudium zu bewerben. Die TalentScouts unterstützten die damalige Schülerin erfolgreich bei der Bewerbung für ein Stipendium.
Junge Talente wie „Günny“ werden bei der Studien- oder Berufswahl von TalentScouts aus aktuell 17 Hochschulen begleitet. Die Fachhochschule Dortmund ist dabei mit 21 Kooperationsschulen Teil des NRW-weiten TalentScouting-Netzwerks.
Studienabbruch ist kein Beinbruch
Als Anwältin wollte „Günny“ Menschen helfen. Doch je näher sie diesem Ziel kam, desto stärker zweifelte sie an ihrer Studienwahl. Trotz erfolgreichem Studienverlauf und interessanter Vorlesungsinhalte fühlte sich die Studentin unglücklich. „Ich war dankbar für die Möglichkeit, Jura zu studieren. Aber ich wollte nicht jahrelang studieren, um mich am Ende im Beruf unwohl zu fühlen“, erinnert sich „Günny“ an die emotional belastende Zeit.
Wie ihr Traumjob aussehen sollte, wurde „Günny“ erst während des Jurastudiums bewusst. Ausschlaggebend für diesen Findungsprozess war zu wissen, was sie nicht wollte.
„Zu wissen, was man nicht will, ist viel wert. Was zu mir passt, habe ich nur durchs Ausprobieren gelernt.“
Die junge Studentin stellte fest, dass sie statt Schreibtischarbeit, hauptsächlich direkten Menschenkontakt möchte. Sie wünschte sich, Menschen in Notlagen zu unterstützen und sie dabei über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
Trotzdem – das Jurastudium hinter sich zu lassen, war keine leichte Entscheidung für „Günny“. Sie hatte viel Mühe und Zeit ins Studium investiert: Seite für Seite, Hausarbeit für Hausarbeit. Zwar hatte sie vage Vorstellungen von ihrem Traumberuf, wie sie diesen erreichen sollte, wusste sie nicht. „Günny“ wandte sich erneut an das TalentScouting ihres alten Berufskollegs, bei dem ihre Aufmerksamkeit auf den Studiengang Soziale Arbeit gelenkt wurde. Das TalentScouting vermittelte ihr den Kontakt zu einer Studierenden der Fachhochschule Dortmund. Nach dem Gespräch stand für „Günny“ fest: „Ich will Soziale Arbeit an der FH studieren.“
„Ich habe mich wohlgefühlt und in den Vorlesungen dachte ich: Das ist genau das, was ich will.“
Die junge Studentin, die nun seit vier Semestern Soziale Arbeit (Öffnet in einem neuen Tab) an der Fachhochschule Dortmund studiert, ist sicher, die beste Entscheidung ihres Lebens getroffen zu haben. „Ohne das Jurastudium wäre ich vielleicht nie zur Sozialen Arbeit gekommen“, meint die heute 23-jährige. „Ich weiß jetzt genau, warum Jura nicht meins war und warum Soziale Arbeit zu mir passt. Jetzt bin ich auf dem Weg zu meinem Traumjob.“
Besonders glücklich ist „Günny“ darüber, sich in ihrem Studiengang sowohl mit sozialen als auch mit rechtlichen Fragestellungen beschäftigen zu können. Im Studium setzen sich die Studierenden mit Rechtsgebieten auseinander, die für die Soziale Arbeit relevant sind.
Als StudyScout selbst Schüler*innen Mut machen
„Günny“, die sich neben dem Studium bei der Fachschaft und dem Studierendenparlament engagiert, arbeitet seit April 2023 bei der Hochschule vor Ort als StudyScout. „Ich komme selbst aus der Nordstadt und weiß, wie es sich anfühlt, als Erste in der Familie zu studieren. Es gibt viele Jugendliche mit einem ähnlichen Lebensweg“, so die Studentin. „Meine Erfahrungen bei der Studienwahl haben mich geprägt und helfen mir, mich bei meiner Arbeit als StudyScout in die Schüler*innen hineinzuversetzen. Der persönliche Austausch mit den Jugendlichen gibt mir viel.“
Auf Augenhöhe ermöglicht „Günny“ Schüler*innen aus dem Dortmunder Norden praxisbezogene Einblicke in den Studiengang Soziale Arbeit. Bei Campus-Touren oder Workshops erfahren die Studieninteressierten nicht nur, wo sich welcher Fachbereich befindet, sondern auch, was „Günny“ selbst gerne schon vor Studienantritt gewusst hätte.
„In der Hochschule vor Ort sammle ich als StudyScout wertvolle Erfahrungen für die Zeit nach dem Studium. Jetzt stehe ich auf der anderen Seite – es ist ein schönes Gefühl, jemanden zum Nachdenken anzuregen.“
Zwei Minuten bis zum „Aha-Erlebnis"
Als StudyScout hat „Günny“ einen Schulworkshop entwickelt, in dem sich die Studieninteressierten mit ihren individuellen Ressourcen auseinandersetzen. In der Sozialen Arbeit bezeichnen Ressourcen persönliche Kraftquellen sowie soziale und materielle Schutzfaktoren. „Am Ende des Workshops merken die Schüler*innen, wie viel sie eigentlich haben: Familie, Freund*innen, Gesundheit, ein Dach über dem Kopf oder sogar ein Busticket können Ressourcen sein. In meinem Fachprojekt geht es darum, die Schüler*innen zu empowern." Empowerment ist ein Handlungskonzept der Sozialen Arbeit, das zur Lebensbewältigung an den persönlichen Stärken der Menschen ansetzt und dadurch immer wieder zum Thema im Studium wird.
„Wenn die Schüler*innen Spaß haben, ist das ein Erfolgserlebnis. Die Zwei-Minuten-Übung lockert die Stimmung bei Workshops immer auf“.
Die Schüler*innen werden in Zweier-Teams aufgeteilt. Während der eine über ein Thema seiner Wahl spricht, tut der andere – nichts. Keine Mimik, keine Gestik, kein zustimmendes Murmeln – einfach nichts. Im zweiten Durchgang werden die Rollen beibehalten, doch jetzt interagieren die Gesprächspartner*innen miteinander. Die zuhörende Person nickt, lächelt und stellt Fragen. In diesem Moment atmen die Schüler*innen erleichtert auf und „Günny“ ist beim „Aha-Erlebnis" live dabei. Auf spielerische Art und Weise erfahren die Schüler*innen, was wertschätzende Kommunikation bedeutet.
„Günnys“ Geschichte steht exemplarisch für Bildungswege, die nach der Schule nicht geradlinig verlaufen. Neue Wege einzuschlagen bedeutet, Chancen zu ergreifen und sein Leben aktiv zu gestalten. Als „Günny“ an ihrem Bildungsweg zweifelte, hat sie sich Unterstützung gesucht. Heute steht sie als Vorbild auf der anderen Seite – und macht Schüler*innen Mut.