Es war der Herbst 2015, als die Welt von Sedra aus den Fugen geriet: Zusammen mit ihrer Familie musste die damals 13-Jährige die Heimat Syrien verlassen – Zukunftsperspektive offen. Sieben Jahre später erreicht Sedra einen Meilenstein: Sie meistert das deutsche Abitur, mit einer Eins vor dem Komma. Die beeindruckend starke und zielstrebige junge Frau möchte für sich und ihre Familie in Deutschland etwas aufbauen. Und zugleich dem Land, das in einer existenziellen Notlage die Tür geöffnet hat, etwas zurückgeben.
Kindheit, das ist die Phase des Lebens, die von Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit geprägt sein sollte. Sedra kannte so etwas nicht: Religiös-kulturelle Zwänge und innergesellschaftliche Konfliktlinien machten ihrer Familie das Leben schwer, seitdem sie sich erinnern kann. Mit Aufflammen des verheerenden Bürgerkriegs wurden die alltäglichen Einschränkungen so groß, dass die Familie ihr Zuhause verließ und sich auf eine zunächst innersyrische Odyssee begab: „Meine Mutter konnte nicht mehr als Lehrerin arbeiten, wir Kinder nicht mehr zur Schule gehen. Meine beiden kleinen Geschwister und ich haben nicht wirklich verstanden, was in Syrien los war “, erinnert Sedra sich an einen von Angst und Verunsicherung geprägten Lebensabschnitt.
„Uns blieb nur der Weg nach Europa. Niemals hatte ich es bis dahin für möglich gehalten, einmal auf einem anderen Kontinent zu leben.“
Sedras fünfköpfige Familie teilt das Schicksal Millionen anderer Syrer, die in der bisher größten Fluchtbewegung des 21. Jahrhunderts ihrem Herkunftsland Lebewohl sagten. „Uns blieb nur der Weg nach Europa. Niemals hatte ich es bis dahin für möglich gehalten, einmal auf einem anderen Kontinent zu leben.“ Ein anderer Kontinent, das bedeutet auch: eine fremde Kultur, fremde Sprachen, fremde Menschen.
Ein Wunder, in Deutschland angekommen zu sein
Manche Geflüchtete zerbrechen an dieser Erfahrung, sofern sie es denn überhaupt über das Mittelmeer schaffen. Nicht so Sedra, die den Moment des Ankommens in Deutschland als „Wunder“ erlebte; nach Jahren voller Gefahren und Entbehrungen war Deutschland für sie und ihre Familie so etwas wie der sichere Hafen. Auch dank der Haltung ihrer Eltern hat Sedra dieses Gefühl bis heute konserviert und in das Bestreben umgemünzt, in diesem sicheren Hafen Schritt für Schritt etwas aufzubauen: „Mein Vater hat immer zu uns gesagt: Deutschland hat seine Tür für uns geöffnet, als wir in Not waren. Und wir müssen diesem Land etwas zurückgeben. Das ist ein Motto von mir geworden“, schlägt die heute 20-Jährige die Brücke von der zutiefst belastenden Fluchterfahrung zu einer chancenorientierten Zukunftsgestaltung mit gesellschaftlichem Nutzen.
Familien-Managerin für alle Belange des alltäglichen Lebens
Der Weg vom gedanklichen Vorhaben hin zum tatsächlichen Kreieren dauerhafter Möglichkeiten war und ist kein einfacher. Geprägt wird er einerseits von außerordentlicher Verantwortungsbereitschaft: Von Tag eins in Deutschland schlüpfte sie für ihre Familie in die Rolle einer Art Managerin für alle Belange des alltäglichen Lebens. Sie, die älteste Tochter, die durch bloßes Zuhören in kürzester Zeit Deutsch lernte, führte Ämterkorrespondenzen, hielt für sich und ihre beiden Geschwister nach Schul- und Kita-Plätzen Ausschau und hat auch die beruflichen Perspektiven ihrer Eltern stets im Blick. Im Sommer 2020 koordinierte Sedra binnen eines Monats federführend den Umzug ihrer Familie von Altena nach Dortmund. „Die Idee war, in der größeren Stadt bessere Voraussetzungen für die schulische Bildung von mir und meinen Geschwistern und die Job-Perspektiven meiner Eltern zu schaffen“, benennt sie die klugen Gedanken, die zugleich ein Spiegel ihrer Persönlichkeit sind: Sedra nimmt für ihre Zukunftschancen jede Herausforderung an, so groß sie auch sein mag, und hat dabei immer das Wohl ihrer gesamten Familie im Blick. „Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit das Beste für meine Familie zu geben. Meine Eltern haben für die Zukunft für uns Kinder alles aufgegeben, in Syrien waren sie beide als Lehrer tätig. In Deutschland muss ich Verantwortung übernehmen, da ich die deutsche Sprache für mich viel einfacher zu erlernen war.“
„Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit das Beste für meine Familie zu geben. Meine Eltern haben für die Zukunft für uns Kinder alles aufgegeben, in Syrien waren sie beide als Lehrer tätig. In Deutschland muss ich Verantwortung übernehmen.“
Ein zweiter Baustein auf ihrem Weg ist die beständige Bereitschaft zu einer offenen, aktiven Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld. Sedra hat schnell gelernt, dass sie als Zugewanderte in Vorleistung gehen muss, dafür aber auch mit Hilfe und Freundschaften belohnt wird: „Ich bin ein sozialer Mensch, der gerne mit anderen redet. Vielleicht war ich deshalb immer gut integriert und habe schnell Freunde gefunden. Außerdem wurde mir umso mehr geholfen, je mehr ich zum Beispiel um meinen schulischen Abschluss bemüht habe.“
Studienwunsch Medizin: Luxusgut in der vom Krieg zerrütteten Heimat
Sedra möchte ein medizinisches Fach studieren, möglichst Human- oder Zahnmedizin. Sie verbindet mit der Medizin jene Menschlichkeit, die in ihrer vom Bürgerkrieg zerrütteten Heimat zu einem Luxusgut geworden ist. „In meiner Heimat haben viele Menschen keine Möglichkeit sich bei einem gesundheitlichen Problem Hilfe zu holen – aus Angst in ein Krankenhaus zu gehen, weil das Geld fehlt, weil Kliniken schlecht ausgestattet sind. Ich selbst möchte anderen Menschen helfen und aus meiner Sicht ist es das Beste, was man als Mensch geben kann.“ Gleichzeitig entsprechen die komplexen medizinischen Disziplinen Sedras Grundhaltung, mit einer Mischung aus Respekt und Neugier bisher Unbekanntes zu erobern und beständig dazuzulernen. „Medizin ist wie ein Meer aus Geheimnissen, das kein Ende hat“, entwirft sie ein bemerkenswertes Bild.
„Ich selbst möchte anderen Menschen helfen und aus meiner Sicht ist es das Beste, was man als Mensch geben kann.“
Für eine möglichst exakte Vorstellung von den ebenfalls kniffligen Zugangsvoraussetzungen zum Medizinstudium und eine realistische Chancenabwägung nimmt Sedra seit eineinhalb Jahren am TalentScouting teil. Auf die Idee brachte sie Maria Volbers, Mathematik-Lehrerin und zugleich Studien- und Berufswahlkoordinatorin an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule Dortmund. „Die Gespräche mit meinem TalentScout Frederik sind für mich eine Chance, mich mit meinen Entscheidungen aus allen Blickwinkeln auseinanderzusetzen und bestimmte Detailfragen zum Studium besser zu verstehen. Die Beratungen sind immer lohnenswert und wir haben auch nach dem Abi den Kontakt behalten. Ich schätze es sehr, mit wie viel Freundlichkeit und Respekt mein TalentScout mir und jedem anderen meiner früheren Mitschüler begegnet.“
Prüfungsvorbereitung mit der Mutter bis tief in die Nacht
Aktuell absolviert sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Klinikum Dortmund-Nord, um einerseits ihre medizinischen Vorerfahrungen zu schulen und sich parallel konzentriert auf den so genannten TMS-Test vorzubereiten. Der so genannte „Test für medizinische Studiengänge“ ist neben der Abiturnote das wichtigste Kriterium für die Vergabe der umkämpften Studienplätze in den medizinischen Fächern. Je besser das Resultat im fünfstündigen Marathon-Test, desto mehr Punkte fließen in die Bewerbung auf die deutschlandweit zentral vergebenen Studienplätze an den staatlichen Universitäten ein. In fordernden Phasen wie dieser ist es ihre Familie, die ihr den unermüdlichen Einsatz für die Gemeinschaft mit maximaler Unterstützung dankt: „Manchmal muss meine Mutter mich auch daran erinnern, dass Rückschläge nicht das Ende der Welt sind. Aber auch mein Vater und meine Geschwister sind immer für mich da.“
So ist die Geschichte Sedras auch die Geschichte einer Familie, die ihre Heimat in den Kriegswirren Syriens verloren hat und daran nicht zerbrochen ist. Zusammenhalt, Courage und eine positive Grundhaltung tragen sie durch ein Leben, das bei allen Herausforderungen immer auch Hoffnung auf neue, lohnenswerte Horizonte bereithält.